Watch_Dogs

Fast zwei Jahre sind zwischen der ersten Präsentation und der Veröffentlichung Ende Mai 2014 vergangen. Weitere 30 Tage hat es gedauert bis ich die Geschichte von Aiden Pearce, dem Hauptprotagonisten von Watch_Dogs, absolviert habe und etwa ebenso lange frage ich mich, was Watch_Dogs sein möchte und eigentlich ist.

Watch_Dogs - Dogtag

Was Watch_Dogs sein wollte? Anhand der auf YouTube verfügbaren perfekt geskripteten E3 2012 Präsentation ein Spiel in einer offenen Welt, in welcher der Spieler versucht als eine Art Robin Hood die Stadt durch gezielte Manipulation (sprich Hacking) der vernetzten Infrastruktur von einem Verbrechersyndikat zu befreien. Was aus der Vision von Watch_Dogs geworden ist? Ein Spiel in einer offenen Welt, in welcher der Spieler von Rachemotiven getrieben den Drahtzieher hinter dem Anschlag auf seine Familie sucht, seinen Ziele primär mit Hilfe von Waffengewalt und sekundär durch Manipulation der hackbaren Infrastruktur durchsetzt und sich gleichzeitig in einer von Nebentätigkeiten übersäten digitalen Version von Chicago wiederfindet. Watch_Dogs in Kurzform? Oberflächlich, umfangreich, bedingt fesselnd, unterhaltsam und teilweise anregend. Habe ich Watch_Dogs gerne gespielt? Ja, wegen dem Motiv einer hyperverbundenen überwachenden Stadtinfrastruktur, dem asynchronen Mehrspielermodus und den schier unendlich vielen Aktivitäten neben dem primären Geschichtsstrang. Habe ich Watch_Dogs ungern gespielt? Ja, aufgrund der fehlenden Charakter- und Infrastrukturtiefe, der omnipräsenten Waffennutzung und dem fehlenden Moralsystem.

Big Data lautet das Schlagwort, wenn man versucht die Ideologie hinter dem auf dem Bildschirm sichtbaren digitalen Abbild von Chicago zu verstehen. Das auf ctOS getaufte Betriebssystem der Stadt steuert die privatisierte Stadtinfrastruktur, sammelt prophylaktisch alle und damit sind wirklich alle verfügbaren Daten gemeint und wertet diese anhand unterschiedlicher Faktoren aus. Anstelle von gezielter Datensammlung findet zwecks einfacherer Handhabung einfach die komplette Datensammlung statt, denn gefiltert werden kann auch später. Daten von jedem werden gesammelt und jeder wird zu einem Datenpunkt in einer schier unendlich großen Menge an Datenpunkten. Der Zugriff auf Datenpunkte findet im Spiel mittels Smartphone statt und der Spieler mutiert zum Voyeur der Einwohner. Hier ein Gamer, dort der Drogenjunky und hier ein spielsüchtiger Pädophiler. Dort oben eine Kamera, da unten die Webcam eines PCs und hinter dem Fenster ein anzapfbares Mikrofon eines Smartphones. In Verbindung mit der Menschlichkeit und deren Fehleranfälligkeit wäre es eine optimale Grundlage für das Erzählen dynamisch spannender Geschichten und das Schaffen einer beängstigenden erdrückenden Atmosphäre. Quis custodiet ipsos custodes? Wer überwacht die Überwacher? Spannend und in der heutigen Zeit eine noch immer zu selten gestellte Frage, an die sich leider Watch_Dogs nur sehr oberflächlich ran traut, zu oberflächlich. Es bleibt bei hier eine Kamera übernehmen, dort ein Gespräch mitlauschen und passiv die Metadaten der Stadtbewohner an einem vorbeirauschen sehen. Einzelne Datenpunkte, von denen einige etwas Tiefe besitzen, die aber in Wirklichkeit anstelle von Geschichten nur oberflächliche Klischees bieten, wodurch mit steigender Spieldauer der Datenzugriff anstatt moralisch fragwürdig zur Norm wird und auch keinen spielerischen Einfluss hat. Trotzdem bietet das Szenario einen gewissen Reiz, der trotz der Oberflächigkeit zum Nachdenken anregt, denn was wäre nur wenn.

Voyeurismus ist auch das Motiv, durch welches der asynchrone Mehrspielermodus reizvoll wird. Asynchron aus dem Grund, da bei den zwei in meinen Augen spannenden und Spielmodi Hacking und Beschattung ein Ungleichgewicht sowohl in spielerischer als auch situationsbedingter Hinsicht besteht. Passend zur Grundthematik des Spiels besteht die Möglichkeit in die Welt anderer Spieler dynamisch einzudringen und Daten von diesen zu stehlen oder sie unbemerkt zu beschatten. Der eine Spieler dringt bewusst in die Privatsphäre des anderen ein, der ohne Vorwarnung plötzlich von der Rolle des allmächtigen Überwachers zum fast hilflosen und leicht überforderten Überwachten wird. Ein Wechsel der Perspektive, der aufgrund der menschlichen Unberechenbarkeit und Vorgehensweise durchwegs spannend ist und mit jeder waffenlosen Konfrontation immer mehr zu meinem persönlichen Highlight in Watch_Dogs wurde.

Keine offene Spielwelt ohne unendlich viele Möglichkeiten und das digitale Abbild von Chicago bietet hier keine Ausnahme. Jegliche Spielerfahrung die von einem der gefühlt 100 Ubisoft Studios in den letzten vier Jahren in einem Spiel erfolgreich implementiert wurde, findet sich hier wieder. Egal unter welcher Bezeichnung die Spielmechanik getarnt ist, die Nebenaktivitäten finden sich in jedem Ubisoft Spiel mit einer offenen Welt. Gebiete erobern, irgendwas finden, etwas anderes sammeln, mehrmals die Spielwelt durchqueren und irgendwelche Gegner eliminieren. Bei Watch_Dogs sind die Mechaniken als ctOS Serverraum hacken, ctOS Türme erreichen oder Smartphone Check-Ins getarnt. Klingt nicht weltbewegend, ist es auch nicht von der Spielmechanik und macht trotzdem Spaß. Die Nebenaktivitäten wurden passend in das Szenario eingebettet und bieten einen selbstbestimmten unterhaltsamen Zeitvertreib abseits der Geschichte des Hauptprotagonisten, der die Spieldauer für mich deutlich verlängert hat.

Grundlegend ist Watch_Dogs eine solide Mischung, die von Seiten der Spielmechanik nichts falsch macht. Die Steuerung funktioniert, das Kampfsystem sowie die Zielsystematik frustrieren nicht und das Gesamtprodukt wirkt harmonisch kombiniert, fast schon zu harmonisch. Es fehlen die Kanten, die Ecken und die Tiefe in der Spielwelt und der Geschichte von Aiden Pearce. Böse Zungen behaupten, dass Watch_Dogs ein klassisches Open-World-Retortenprodukt aller Ubisoft Abteilungen und Studios ist. Rache als Motiv, eine zorniger weißer Hauptprotagonist der seine Familie verloren hat und jetzt ein klischeehaft übertriebenes Feindbild in einer Welt voller generischer Nebenaktivitäten jagt. Und es stimmt im Ansatz, dennoch fühlt sich Watch_Dogs aufgrund des Szenarios für mich anders an und hebt sich aufgrund des Überwachungsszenarios, der harmonischen Zusammensetzung der Spielmechaniken sowie Spielwelt und dem dynamischen asynchrone Mehrspielermodus etwas ab. Kann man das Szenario und die Präsentation gesellschaftskritisch hinterfragen? Nein. Sollte man Watch_Dogs dennoch spielen? Ja, denn Spielmechanik und der Ansatz des Szenarios funktionieren. Darf man Watch_Dogs lieben? Noch nicht, aber der Release von ctOS 2.0 steht an und dann werden die Karten in London neu gemischt.

Gespielt wurde über einen Zeitraum von vier Wochen auf der Xbox One. Watch_Dogs gibt es in den digitalen Marktplätzen für Xbox One, PlayStation 4 und via Uplay für den PC. Amazon* verkauft verschiedene Editionen für quasi allen Plattformen um 55 bis 110 Euro. Eine Wii U Version ist für Herbst 2014 angekündigt. Weder London als Stadt noch Watch_Dogs Two ist angekündigt, jedoch wäre alles andere aufgrund der enorm guten Verkaufszahlen und meinem Bauchgefühl unrealistisch ;-). Hinweis hinsichtlich Transparenz: Ubisoft Österreich hat ein Testmuster für die Xbox One zur Verfügung gestellt und mich Ende Mai zum Watch_Dogs Launch Event in Wien eingeladen.

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