Als Nintendo Anfang 2019 relativ unerwartet Tetris 99 veröffentlichte, klang alles nach einem Rohrkrepierer. Zum einen da das Videospiel nur als Teil der kostenpflichtigen Nintendo Switch Online-Mitgliedschaft angeboten wurde und sich gedanklich die Grundprämisse der klassischen Mechanik von Tetris gepaart mit dem Battle-Royale-Spielprinzip schlicht merkwürdig, vermeidbar und unnötig einstufen lies. Tetris ist seit der im Jahr 1989 erschienenen Version für den Game Boy ein Klassiker, der heute weder erklärt werden muss und der eigentlich nicht mit unnötigen Zusatzfunktionen und Elementen verhunzt werden darf. Das Zerstören der Faszination des Klassikers ist in den letzten 30 Jahren mehrfach in verschiedensten Ausprägungen passiert und die Grundprämisse von Tetris 99 deutete genau in diese negative Richtung. Erst recht, da in der Welt der Videospiele rund um das Erscheinen von Tetris 99 sich Titel mit Battle-Royale-Modus hoher Beliebtheit erfreuten und vereinfacht ausgedrückt jeder Hersteller von Videospielen die Beliebtheit des unter Anführungszeichen neuen Genres für eigene Titel nutzen wollte. Sehr viele Warnsignale und sehr viel Potential, um Tetris 99 sprichwörtlich gegen die Wand zu bauen. Aber jeder der Tetris 99 auch nur einmal gespielt hat weiß, dass genau dies nicht passiert ist. Tetris 99 ist nicht nur ein gutes Videospiel, sondern eine der besten, wenn nicht sogar die beste Umsetzung des klassischen Spielprinzips der letzten 30 Jahre und dies auch durch den Fokus auf das Battle-Royale-Spielprinzip.
Mein Tagesablauf der letzten Wochen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Wecker läutet, es folgt der obligatorische Besuch im Badezimmer, ein Abstecher in der Küche zwecks einer Tasse Tee, im Homeoffice ein paar Stunden an diversen Themen arbeiten, etwa eine halbe Stunde Tetris 99 um die täglichen Herausforderungen im Videospiel zu absolvieren, Mittagessen um den knurrenden Magen zu stillen, zurück im Homeoffice noch ein paar Stunden fokussiert Themen voranbringen, ein oder zwei Runden Tetris 99 um den Kopf für anderes frei zu bekommen, ein je von Lust und Laune und Terminen getriebenes flexibles Abendprogramm und kurz vor dem Weg ins Schlafzimmer noch etwas Tetris 99 bevor die Nintendo Switch zurück in die Docking-Station wandert und ich mich mit einem Buch ins Bett kuschle um den Tag zu beenden. Natürlich ist nicht jeder Tag genau so, aber die meisten Tage der letzten Wochen irgendwie schon und ich finde es faszinierend, welche Faszination Tetris 99 auf mich ausübt. Selten greife ich mehrfach pro Tag zu einem Videospiel, bisher griff ich nie über einen so langen Zeitraum wie hier auf täglicher Basis so oft zu einem Videospiel. Spannend wenn man selbst reflektiert und etwas darüber nachdenkt.
Der Verlauf meiner Erfahrung mit Tetris 99 ist vermutlich ähnlich zu der von vielen anderen und verläuft auch analog der Erfahrung, die man jedes Mal mit Tetris hat. Das Spielprinzip der unterschiedlichen von oben herabfallenden Blöcke und die Herausforderung durch passende Kombinationen horizontale Linien zu bilden, um die so gebildete Reihe verschwinden zu lassen, ist schnell erklärt und verinnerlicht. Neulinge brauchen ein paar Runden, jeder Mensch, der bereits einmal in der Vergangenheit in Kontakt mit einem Ableger des Spielprinzips aus dem Puzzle-Genre gekommen ist, fühlt sich sofort zu Hause. Nach und nach erkennt man Muster, man sieht Kombinationen schon mehrere Blöcke im Voraus, anstelle nur Reihen so rasch wie möglich zu bauen, baut man bewusst mit Lücken in der Vertikalen und freut sich, wenn ein geistig geschmiedeter Plan funktioniert. Je mehr man spielt, des besser wird man, desto effektiver wird man, desto komplexere Strategien und raffiniertere Möglichkeiten eröffnen sich einem, obwohl das Grundprinzip weiterhin einfach wirkt. Auch wenn es eine zu häufig genutzte Phrase ist, dass manche Dinge einfach zu spielen und schwierig zu meistern sind, auf Tetris 99 trifft das voll und ganz zu. Das Schöne hier ist zusätzlich, dass unabhängig von den Fähigkeiten oder der Erfahrung des Videospielers oder dem Spielverlauf jede Partie Spaß macht, Freude bereitet und innerlich befriedigt.
Diese innere Befriedigung wird primär durch zwei Sachen hervorgerufen. Die offensichtlichste ist die die optische Darstellung, die akustische Signalisierung als auch die haptische Rückmeldung, die man während einer Partie von Tetris 99 erhält und wie hier vom Entwickler auf jedes noch so kleine Detail in perfektionistischer Art geachtet wurde. Jedes annähernd relevante Element wird auf alle drei Arten mitgeteilt, sei es das Fertigstellen einer Reihe, das dumpfe Herabfallen der Blöcke darüber dabei oder das Sammeln von Abzeichen, um gegen Ende einer Partie realistischere Chancen gegen die 98 anderen Mitspieler zu haben. Nichts was einem sofort bewusst auffällt, sondern erst wenn man genau darauf achtet und genau aufgrund dieser unbewussten Wahrnehmung, fühlt es sich einfach sprichwörtlich richtig an. Kombiniert man diese Basis mit dem zweiten Aspekt, der enormen Tiefe der möglichen Mechaniken hinsichtlich der Regeln von Tetris, ist es der stetige Eigenantrieb neue Techniken zu verstehen, zu trainieren und zu meistern. Vereinfacht sind dies Strategien zum Aufbau um mehr als nur eine Reihe gleichzeitig zu bilden, das bewusste Nutzen von Lücken, um mit aufeinanderfolgenden Blöcken zumindest eine Reihe und damit eine Kette aufzubauen oder das zeitlich perfekt abgestimmte Drehen eines Blocks, um diesen in eine unmöglich wirkende Lücke zu platzieren. Letzteres nennt sich T-Spin, den gibt es in verschiedenen Ausführungen sowie Komplexitätsgraden und ist für mich in Kombination eines strukturierten Aufbaus einer möglichen Kette die Königsdisziplin hinsichtlich der möglichen Techniken in Tetris 99. Manche der Techniken sind offensichtlich und reizen den Videospieler diese auszuprobieren und zu erkennen, über manches stößt man mehr durch Zufall und eignet sich die erforderlichen Fähigkeiten mittels Übung, Probieren oder Videos anderer Videospieler an. Mit jeder versuchten Anwendung verinnerlicht man diese Techniken immer mehr, mit jeder Partie gehen diese Elemente immer mehr ins eigene Gespür über und jede erfolgreiche Anwendung fühlt sich unheimlich gut sowie befriedigend an.
Wenn man diesen optimierten Grundmechaniken sowie dem perfekten Spielgefühl nun das Battle-Royale-Spielprinzip überstülpt, hat man Tetris 99. Startet man eine Partie, wird man mit 98 anderen Videospielern auf der Welt zusammengewürfelt und spielt hinsichtlich der Blöcke und der zufälligen Anordnung dieser gleichzeitig dieselbe Partie Tetris. Das Ziel ist als letzte Person überzubleiben und dies erreicht man in dem man zuvor erwähnte Strategien und Techniken optimal einsetzt. Zum einen um das eigene Spielfeld möglichst leer zu halten und so nicht KO zu gehen und gleichzeitig durch das Auflösen mehrerer Reihen, das Erreichen von Ketten, verschiedener T-Spins als auch durch die Kombination davon den Verlauf der Partie für andere schwieriger zu gestalten. Bedeutet konkret, dass für jedes dieser Elemente eine entsprechende Anzahl an nicht vollständigen Reihen an Mitspieler in der Partie gesendet werden, diese von unten das Spielfeld auffüllen und somit zusätzlichen Druck erzeugen. Die Abwehr solcher Angriffe funktioniert auf dem gleichen Weg, denn bevor das eigene Spielfeld von unten befüllt wird, kann durch das Auflösen mehrerer Reihen, das Erreichen von Ketten, T-Spins als auch der Kombination der Angriff neutralisiert werden. Die Auswahl wen man durch sein Können den Verlauf der Partie erschweren möchte, funktioniert sowohl individuell durch Selektion am Bildschirm, da man die anderen 98 Spielfelder in einer verkleinerten Darstellung sieht, oder durch Anwahl einer von vier vordefinierten Strategien. Das Angenehme daran ist, dass es zwar ein Onlinemodus mit Echtzeitinteraktion ist, jedoch keine wirklich relevant spürbare Interaktion stattfindet und die Identität der Mitspieler absolut irrelevant ist. Es ist ein abstrahierter Onlinemodus, der als spannend und reizvoll wahrgenommen wird, da man sich der Situation bewusst ist, dass just in diesem Moment fast hundert andere Menschen auf der Welt mit einem gemeinsam spielen. Gleichzeitig ist dieser aber so losgelöst, dass man nicht mehr Informationen über diese anderen Menschen benötigt, keinen Drang hat weitere Informationen zu erhalten und es keine Möglichkeit gibt mit diesen anders als wie zuvor beschrieben zu interagieren. Aber der Umstand, dass man gegen echte und dadurch unberechenbare Menschen antritt und nicht gegen verschiedene vom Computer definierte Verhaltensmuster spielt, macht es äußerts spannend. Verstärkt wird dies noch mehr aufgrund der hohen Anzahl der gleichzeitigen Mitspieler, seiner kurzfristigen Gegner, und dem damit einhergehend schwankenden Schwierigkeitsgrad über die Partien hinweg. Um eine Partie zu überstehen benötigt man ruhige Nerven als auch ein kühles Köpfchen, sollte möglichst viele der erweiterten Techniken beherrschen und eine Prise Glück schadet nie. Aber unabhängig ob man es schafft oder nicht, jede Partie macht Spaß, jede Partie bringt einem etwas bei und motiviert es einfach erneut zu versuchen.
Es ist eine sich immer wiederholende Schleife in kurzer Zeit, welche in sich abgeschlossen ist und bei der die Weiterentwicklung nicht im Videospiel, sondern beim Videospieler stattfindet. Bei einem Videospiel, mit den ich vor etwa 30 Jahren das erste Mal auf dem Game Boy in Kontakt gekommen bin, sehe ist es ehrlich gesagt noch etwas anders, denn für mich ist jede Partie und alles was ich lerne irgendwie auch kleines bisschen Lebenserfahrung. Diese kurzen Partien auf einer portablen Videospielkonsole wie der Nintendo Switch, sind das perfekte Format für ein paar Partien zwischendurch an jedem Ort zu jedem Zeitpunkt. Sei es zur Entspannung, sei es zur Ablenkung oder um einfach Techniken zu verinnerlichen. Unterstützt wird dies durch die perfekte Umsetzung und auch das anfänglich unnötig wirkende Drumherum. Es gibt zum Beispiel jeden Tag je zwei oder vier Herausforderungen, deren Absolvierung mit optischen Kleinigkeiten belohnt wird. Was zu Beginn wie unkreativ zwanghaft erzeugter Inhalt wirkt, ist in Wirklichkeit eine, wie ich selbst erleben durfte, effektive Methode, um Videospieler mit unterschiedlichen erweiterten Techniken bekanntzumachen und zu motivieren diese zu trainieren.
Ich glaube ich habe jetzt genug über Tetris 99 geschrieben und ich denke man merkt, dass es mir das Videospiel angetan hat. Tetris 99 ist für mich eine der besten Umsetzung des klassischen Spielprinzips der letzten 30 Jahre und nach zig Stunden in hunderten Partien bin ich froh, dass ich mich auf den Titel eingelassen habe. Es ist irgendwie wie früher, aber anders, unerwartet anders, aber aus positiver Sicht. Es ist unheimlich schwierig in kurzer Form diese Sache zu beschreiben, aber Tetris 99 ist am ehesten wie der Sprung in den Kaninchenbau und es geht immer tiefer und tiefer rein und es fühlt sich einfach so richtig und gut an. Jeder der die Möglichkeit hat Tetris 99 zu spielen, sollte es tun und sei es nur für ein paar Partien zum Probieren. Aber genug der Worte über Tetris 99, ich muss dann mal kurz weg, um mich bei einer oder zwei Partien zu entspannen.
Gespielt wurde Tetris 99 auf der Nintendo Switch. Entwickelt wurde der Titel vom japanischen Entwicklungsstudio Arika und vertrieben wird der Titel vom japanischen Publisher Nintendo. Das Videospiel ist für die Nintendo Switch erhältlich. Digitale Bezugsmöglichkeit ist der Nintendo Store (Switch AT Direktkauf). Ein physischer Datenträger samt „Big Block DLC“-Erweiterung (Möglichkeit gegen den Computer zu spielen, lokaler Multiplayer und Marathon-Modus) samt Jahresmitgliedschaft für Nintendo Switch Online ist unter anderem bei Amazon (physischer Datenträger*) erhältlich. Das Videospiel ist kostenlos sowie exklusiv für zahlende Mitglieder von Nintendo Switch Online, die optionale Erweiterung „Big Block DLC“ kostet etwa 10 Euro und die physische Version bestehend aus dem Videospiel, dem DLC sowie der Jahresmitgliedschaft kostet etwa 27 Euro.