Nahezu jedes Mal, wenn ich vollmotiviert ein neues Videospiel starte, beginne ich gedanklich mit einem festen Ziel: Ich möchte den Titel in allen Facetten erleben und aus allen möglichen Perspektiven sehen. Oder anders formuliert, ich möchte eine 100%-Erfahrung haben. Es reicht mir nicht das reine Durchspielen, sondern ich möchte jeden Abschnitt komplett absolvieren, ich versuche jegliche Haupt- als auch Nebenmission zu spielen und auch alle Sammelobjekte stehen gedanklich auf meiner persönlichen Liste. Meine Vorliebe für Videospiele mit offener Videospielwelt ist diesem Ziel und der anfänglich vorhandenen Motivation inhaltlich nicht zuträglich, denn auch wenn ich die ersten Stunden mit dem Videospiel dieses Ziel verfolge, verschwindet meine Motivation früher und später immer mehr und ich finde mich selbst in der Situation, dass ich mich zwingen muss, dass ich überhaupt das Ende des Titels erreiche. Das ursprüngliche Ziel spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr und obwohl ich über die letzten Jahre dieses Verhalten bei mir immer und immer wieder erlebt habe, falle ich immer und immer wieder in dieses Muster zurück.
Das Thema für mich dabei ist, dass dieses Verhalten einen mittlerweile sehr negativen Beigeschmack für mich hat. Die Gründe dahinter sind unterschiedlich und je nach Phase auch wechselnd. Der Ursprung für das Ziel ist einfach erklärt, denn wenn ein Videospiel 60 bis 70 Euro kostet, dann ist mein Gedanke irgendwie, dass ich möglichst viel Zeit damit verbringen möchte. Noch mehr, wenn es ein Titel ist, der mich hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung und auch der Videospiel-Mechaniken anspricht und mir auch gefällt. Quasi die vollkommene Fokussierung auf ein Videospiel. Dieser Grundgedanke dahinter ist selbstredend nicht allgemein gültig, aber gibt meinen persönlichen Zugang zu diesem Thema gut wieder.
Mit dieser Denkweise starte ich ein Videospiel und die ersten Stunden funktionieren mit dieser Herangehensweise auch gut. Irgendwann zwischen 10 und 20 Stunden Spielzeit schwindet die ursprüngliche Motivation. Aktivitäten im Videospiel und auch bis dahin als gut empfundene Videospiel-Mechaniken beginnen für mich anstrengend bis hin zu nervig zu werden. Wenn ich an meine zuletzt gespielten Titel zurückdenke, ist es jedoch weniger die Spielzeit, die diesen Moment hervorruft, sondern eigentlich immer der Übergang des Videospiels von einem überschaubaren Gebiet in die gesamte Videospielwelt. Der Augenblick, in dem aus einer bisher mengenmäßig greifbaren Menge gefühlt unendlich andauernde Projekte für mehrere Wochen werden und in dem ich als Videospieler plötzlich vom schier ausufernden Umfang schlichtweg überfordert werde. Die Menge an möglichen Missionen ist hoch, die Möglichkeiten der Aktivitäten ist unüberschaubar und die Anzahl an Sammelobjekten geht in Summe in den dreistelligen Bereich mit zig Statusangaben, welche in diesem Moment schlichtweg im niedrigen einstelligen Prozent-Bereich der Erfüllung liegen. Es ist der Augenblick, an dem ich erstmals realisiere, dass aus meiner persönlichen Herausforderung ein Mammut-Projekt geworden ist und es ist der Moment, an dem starke Zweifel an der Sinnhaftigkeit meiner Herausforderung in mir hochkommen.
Unabhängig von der beschriebenen schlichtweg vorhandenen Überforderung zu diesem Zeitpunkt, überwiegt mein Ehrgeiz und ich spiele ohne wirkliche Strategie oder Konzept weiter. Mit jeder weiteren Spielstunde verstehe ich wie Sachen funktionieren und aufgebaut sind und langsam entsteht gedanklich ein konkreterer Ansatz, um das ursprüngliche Ziel der 100%-Erfahrung doch zu meistern. Das funktioniert für mich auch wieder ein paar Stunden gut, bis dann je nach Videospiel der innerliche Komplettabsturz eintritt. Hervorgerufen von mir selbst, denn spätestens jetzt hat sich der Ansatz soweit konkretisiert und manifestiert, dass quasi ein Arbeitsplan entstanden ist. Anstelle mich auf die Geschichte des Videospiels, die Schönheit der Videospielwelt und die Erlebnisse ohne Hintergedanken einzulassen, gilt es nun einen Plan zu verfolgen, welcher mit möglichst hoher Effektivität abgearbeitet werden soll, um mein Ziel zu erreichen. Der Begriff Arbeit ist bewusst gewählt, denn zu diesem Zeitpunkt fühlt es sich für mich nach Arbeit an. Meine Flucht in digitale Welten in der Freizeit als Ausgleich zum beruflichen Alltag ist schlichtweg in diesem Moment mit dem beruflichen Alltag gleichgesetzt worden. Der elementare Grund ein Videospiel als Ausgleich dazu zu spielen, ist nun nicht mehr vorhanden.
Schade ist wohl das Wort, welches mir am ehesten dazu einfällt, denn dieser negative Beigeschmack macht das Medium Videospiele für mich persönlich kaputt. Ich mag das Medium, ich mag Videospielwelten und ich mag die Erfahrungen die man als Videospieler macht, aber ich mag meine Freizeit nicht als Arbeit empfinden. In den letzten Jahren bin ich oft in dieses Verhaltensmuster gefallen und die von mir geliebten Videospiele mit offener Videospielwelt, fordern dieses Verhaltensmuster bei mir geradezu heraus. Immer wenn dieser innerliche Komplettabsturz eingetreten ist, hatte ich keine Lust mehr irgendwas mit Videospielen zu machen. Nach kurzen Pausen kehrte ich zurück zum Medium, setzte meine virtuellen Abenteuer aber mit einem anderen Titel fort. Im besten Fall verschwand der zuvor begonnene Titel für mich, aber meistens verfolgte dieser mich unbewusst über die nächsten Wochen bis Monate und nagte stetig innerlich an mir. Solange, bis ich mich erneut daran versuchte und mich zwang zumindest die Geschichte zu einem Ende zu bringen. Etwas, was manchmal gelang, aber auch etwas, was am Ende Spuren hinterlassen hat. Die negativen Gefühle in den Wochen oder gar Monaten zuvor sind nämlich immer länger geblieben, manchmal sogar dauerhaft in Bezug auf einzelne Videospiele und Marken.
Einfacher ist mein Zugang zu Videospielen anderer Genres. Titel, die sehr linear verlaufen und auch welche, die kürzere kompaktere als auch andere Erfahrungen bieten, funktionieren seit einigen Jahren besser für mich als typische Videospiele aus dem Premium-Segment. Zwar häufen sich dort mittlerweile auch immer öfter Funktionen, mit denen versucht wird die Spielzeit durch unterschiedliche Methoden zu verlängern, aber dagegen bin ich aktuell noch relativ resistent. Unabhängig davon, hat sich für mich im Laufe der Zeit auch unbewusst mein eigener Zugang zu dieser Problematik verändert. Dies hat dazu geführt, dass ich generell mehr Wert auf Erfahrungen und Inhalte lege, als auf den Drang, eine 100%-Erfahrung zu haben oder Videospiele gar möglichst effektiv zu absolvieren.
Anders formuliert, bestimme ich mittlerweile nur mehr für mich selbst, wann ein Videospiel für mich beendet ist und giere nicht nach einer 100%-Anzeige im Titel. Quasi wann das für mich persönlich funktionierende Ende erreicht ist und dieses variiert je nach Titel, meiner Stimmung und auch der mir immer im Moment zur Verfügung stehenden Zeit. Ein eigentlich für mich etwas ungewöhnlicher Ansatz, der aber auch unerwartet gut für mich zuletzt funktioniert hat und der rückblickend dazu geführt hat, dass ich nicht zwingend mehr Zeit mit dem Medium Videospiele verbringe, sondern eine für mich persönlich bessere Zeit. Videospiele sind für mich ein Ventil, um aus der echten Welt auszubrechen und mich abzulenken. Sie geben mir Möglichkeiten zur Entspannung und die Zeit, die ich damit verbringe, soll sich auch so anfühlen und nicht wie stetige Arbeit. Es ist weniger die Frage wie ich die meiste Zeit mit einem Videospiel verbringe oder wie ich es zu 100% erlebe, sondern mehr das Thema, wie ich die qualitativ beste Zeit für mich mit dem Medium Videospiele erlebe. Und genau hier bin ich auch etwas stolz auf mich, dass ich mein 100%-Problem erkannt habe, aus meinen Mustern ausbrechen konnte und meinen Zugang zum Medium neu entdeckt habe, denn Videospiele sind für mich einfach ein schöner und spannender Ausgleich zum echten Leben und sollen es auch noch lange bleiben.