Stell dir vor du befindest dich im frühen 20. Jahrhundert, stehst vor dem wartenden Zug nach Wien am Bahnhof in Melk und verabschiedest dich von deinen Eltern. Was ist die letzte Frage die du beim Einstieg in den Zug von deiner Mutter gestellt bekommst? Natürlich die Frage nach Socken, denn es ist Herbst und jeder der vom Land kommt weiß, dass es in Wien immer kalt ist. Im Endeffekt ist es dann wohl ganz gut, dass der Koffer von der eigenen Mutter gepackt wurde, dadurch ein Mangel an Socken eher unwahrscheinlich ist und das Wohlbefinden der eigenen Füße in der österreichischen Bundeshauptstadt sichergestellt ist. Was diese Einleitung mit der ersten Episode von The Lion’s Song zu tun hat? Am Ende inhaltlich eigentlich nichts, aber es ist dennoch der ungewöhnlich österreichische Start eines ungewöhnlichen österreichischen Videospiels.
Das episodische Adventure-Videospiel The Lion’s Song nimmt den Videospieler mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Nicht wirklich in die Vergangenheit, viel mehr in eine von realen Ereignissen inspirierten österreichischen Vergangenheit. Inhaltlich begleitet man in jeder der vier angekündigten Episode eine Person, die mit sich selbst um die eigene Kreativität und oder Genialität kämpft. Soweit zumindest die Information für die Presse und nach dem Spielen der ersten Episode, in der man die 23 Jahre alte angehende Komponisten Wilma Dörfl begleitet, ist in meinen Augen diese Beschreibung durchaus passend.
Wilma hat mit einer Schreibblockade zu kämpfen und flieht auf Empfehlung ihres Mentors auf eine abgelegene Hütte in den österreichischen Alpen. Die dort dominierende Stille soll ihr helfen sich auf sich selbst zu fokussieren und ohne weitere Ablenkung die eigenen Gedanken in Form einer Komposition auf Notenblättern festzuhalten. Ein Plan der nicht funktioniert, da die Stille in den Bergen durch ein Unwetter gestört und die Ruhe in der Hütte von einem plötzlich klingelnden Telefon unterbrochen wird. Und als wären die äußeren Faktoren noch nicht genug, kämpft Wilma auch mit dem wirklichen Problem, nämlich sich selbst und ihrem seelischen Wohlbefinden und dem gesellschaftlichen Druck der auf ihr lastet.
Was zu Beginn oberflächlich wie ein relativ simples zweidimensionales stark von der Geschichte getriebenes Adventure-Videospiel wirkt, gewinnt im Spielverlauf deutlich an emotionaler Tiefe. Es geht im Gegensatz zu klassischen Vertretern des Genres nicht um das Suchen, Sammeln und Kombinieren von Gegenständen, sondern wie sich die Spielfigur, korrekterweise eigentlich der Spielcharakter, im Umgang mit anderen Personen gibt, reagiert und antwortet. In der ersten Episode mit dem Titel Silence ist es die namensgebende Stille die Wilma zu Telefongesprächen mit einem ihr unbekannten Mann verleiten und dadurch zur persönlichen Gretchenfrage bezüglich des Ursprungs der Schreibblockade führt. Mit steigender Spielzeit durchbricht man die anfängliche Oberfläche um in die Tiefen der inneren Unzufriedenheit von Wilma einzutauchen, die nüchtern betrachtet nur so von österreichischen Klischees strotzt. Diese Beschreibung mag abwertend klingend, ist jedoch der Faktor der uns Österreicher so charmant liebenswürdig sein lässt und genau in diese Kerbe schlägt auch der Spielcharakter Wilma Dörfl.
In meiner Erinnerung hat bisher kein anderes Videospiel neben The Lion’s Song die österreichische Mentalität so gut eingefangen wie es hier das in Österreich beheimatete Entwicklungsstudio Mipumi Games geschafft hat. Inhaltlich erfrischend anders, erfrischend angenehm zu den mittlerweile eher selten gewordenen anderen Vertretern des Genres. Optisch bietet das Videospiel einen hübschen minimalistischen Pixellook, der mit ebenso minimalistischen Animationen und der passenden minimalistischen Audiountermalung versehen ist. Minimalistisch bedeutet in diesen Zusammenhang nicht einfach, denn der Detailgrad und der getriebene Aufwand zur gefühlt perfekten Abstimmung zueinander erzeugen ein kleines visuell akustisches Meisterwerk. Der spielmechanische Ansatz entspricht nicht dem klassischen Adventure-Genre, sondern wird wie bereits erwähnt durch die Geschichte des Hauptcharakters und dessen persönlichen Entwicklung getrieben. Die Spielzeit der ersten Episode, konkreter die gemeinsame Zeit mit Wilma Dörfl, liegt bei ungewohnt kurzen 30 bis 45 Minuten, welche jedoch durchaus als intensiv und kurzweilig interessant bezeichnet werden können. Es ist der selbst gewählte Ansatz ein kompaktes Spielerlebnis an einem Abend anstelle von endlosen Wiederholungen zu bieten, ein in meinen Augen guter Ansatz für ein ungewöhnliches und durchgehend empfehlenswertes Videospiel mit einem ungewöhnlichen inhaltlichen Fokus in einer für gewöhnlich mit generischen Inhalten übersäten Zeit von Videospielen.
Der in Wien beheimatete Entwickler Mipumi Games hat die erste Episode von The Lion’s Song im Juli auf Steam für den PC veröffentlicht. Silence erzählt die Geschichte von Wilma, einer begabten österreichischen Musikstudentin, die oberflächlich mit einer Schreibblockade bei ihrer wichtigsten Komposition für ihr erstes großes Konzert zu kämpfen hat und sich zur Lösung erst ihren eigenen Problemen stellen muss. Die dabei getroffenen Entscheidungen haben laut Entwickler Einfluss auf die drei nachfolgenden Episoden, welche sich jede inhaltlich einem eigenen Hauptcharakter widmen. Die erste Episode von The Lion’s Song ist kostenlos erhältlich, der Season Pass für die drei bereits angekündigten Episoden ist für 10 Euro via Steam erhältlich. Weitere Inspiration zu The Lion’s Song gibt es auf der Homepage sowie dem Entwicklerblog.