Das Erste was der Videospieler durch die Augen seines Alter Ego sieht, ist das Innere einer spärlich beleuchteten und auch besuchten Taverne. Sofort setzt die antrainierte Routine ein, man läuft über die Insel des Außenpostens, auf welchem sich die Taverne befindet, und sammelt dabei Bananen, Holzbretter und Kanonenkugeln ein. Man sammelt auf Verdacht und füllt damit die Reserven auf seinem Schiff. Es folgt die Wahl von einem von drei unterschiedlichen Aufträgen um entweder einen Schatz zu suchen, Anführer von Skeletten zu töten oder Güter zu sammeln und diese auch fristgerecht abzuliefern. Am Kartentisch unter Deck des Schiffs den Zielort suchen, den Anker lichten, die Segel entsprechend der Windrichtung setzen, das Steuerrad in die gewünschte Fahrtrichtung einschlagen, Segel justieren, die Richtung des Schiffs an die Gegebenheiten auf See anpassen, den gewählten Kurs am Kartentisch überprüfen, durch Einholen der Segel die Fahrtgeschwindigkeit reduzieren, vor Anker gehen, das erforderliche Ziel des Auftrags absolvieren, die Belohnung zum Schiff bringen und den Vorgang wiederholen. Danach geht es entweder zurück zum Außenposten um die Belohnung gegen virtuelles Gold einzutauschen, man startet einen weiteren zuvor besorgten Auftrag oder macht Dinge in der Videospielwelt von Sea of Thieves.
Diese Kurzbeschreibung von Sea of Thieves klingt überfordernd und ist es die ersten Spielstunden auch. Wie bei vielen anderen Videospielen gilt es auch hier die Videospielmechaniken zu erlernen, im Falle des Titels konkret zu entdecken, verstehen und danach zu erlernen. Sea of Thieves wirft den Videospieler sprichwörtlich in eine Videospielwelt, alle Möglichkeiten mit dieser Videospielwelt zu interagieren stehen ab der ersten Minute zu Verfügung und es überlässt einem mehr oder weniger den Rest. Das Tempo des Titels, was man wie macht und ob man überhaupt etwas macht, ist dem Videospiel egal. Nach den ersten holprigen Ausfahrten werden die zuvor beschriebenen Videospielmechaniken vertrauter und rasch zur Routine. Jeder Handgriff sitzt, man beginnt zu optimieren, es gilt viel in kurzer Zeit zu erreichen. Wobei erreichen in eine falsche Richtung deutet, denn in Wirklichkeit erreicht man in Sea of Thieves eigentlich relativ wenig. Man sammelt Gold durch das Absolvieren von Aufträgen und kauft für sein Alter Ego sowie sein Schiff rein optische Anpassungen. Besser Waffen? Fehlanzeige. Eine Erweiterung der Lebensenergie oder ein größeres Inventar? Gibt es nicht. Spielerische Vorteile eines Videospielers der bereits dutzende Stunden in der Videospielwelt verbracht hat? Nur die persönliche Erfahrung zählt, denn in Sea of Thieves sind alle in Hinblick auf die Videospielmechaniken von Beginn bis Ende gleich.
Eine für das Medium übliche Progression fehlt, die mit virtuellen Gold kaufbaren optischen Anpassungen sind teuer und der spielmechanische Gesamtablauf ist stark repetitiv. Der Status einer Piraten-Legende, dem von Sea of Thieves selbst ausgerufenen ultimativen Ziel, kann nur mit enormen Zeitaufwand erreicht werden und der gesamtheitliche inhaltliche Umfang des Titels ist ein paar Wochen nach der Veröffentlichung überschaubar. Dennoch kann Sea of Thieves funktionieren, nämlich wenn man das Videospiel als virtuellen Spielplatz für sich und seine Freunde sieht. In einer Gruppe von vier Piraten zieht sich eine soziale Schicht über die Basis und verstärkt einen bisher noch nicht erwähnten Faktor, nämlich den erheiternden Chaos-Faktor. Irgendwas geht schief, irgendwas geht immer schief. Alles könnte so schön sein, aber dann segelt man in ein Unwetter, man wird von einem riesigen Kraken attackiert, man sprengt sich samt einem Teil des Schiffs ins Nirwana, torkelt betrunken über Board oder verfehlt dank kollektiver Unfähigkeit mit jeder Kanonenkugel ein anderes Schiff am Horizont. Man könnte fast schon sagen, dass Sea of Thieves versucht die Basis eines inhaltlich begrenzten Generators für unendlich viele eigene Geschichten und virtuellen Aktivtäten mit Freunden zu sein.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass der Titel ein virtueller Spielplatz für gemeinsame Aktivitäten mit Freunden ist, eine gute aber überschaubare Menge an Videospielmechaniken bietet und es keine Progression im klassischen Sinne gibt. Alle Piraten sind gleich, die persönliche Videospielerfahrung mit Sea of Thieves schwankt und ist am ehesten von der eigenen Gruppe und was diese und man selbst daraus macht abhängig. Fast sechs Wochen sind seit der Veröffentlichung von Sea of Thieves vergangen. Anfangs war der Hype groß, bereits nach wenigen Stunden Spielzeit hat sich eine gewisse Ernüchterung eingestellt und quer durch Bank wurde der Titel als wundervolle kooperative Videospielerfahrung mit einer sehr überschaubaren Menge an Inhalten bezeichnet. Was man nicht in Sea of Thieves machen sollte? Alleine spielen, denn dadurch fällt die soziale Schicht weg und die repetitive Spielmechanik wird noch bewusster wahrgenommen. Was mache ich in Sea of Thieves seit ein paar Wochen? Es alleine spielen.
Meine Schaluppe, das kleinere der beiden auswählbaren Schiffe, und ich trifft es ganz gut. Das grundlegende Prinzip des Videospiels bleibt gleich, einzig die soziale Komponente ist abgesehen von Begegnungen mit anderen Piraten in der gemeinsam geteilten Videospielwelt nicht vorhanden. Ich bestimme alleine über mein Schiff und kümmere mich auch selbst um alles um von einer Insel zur nächsten zu kommen. Trotz des kleineren und auch spielmechanisch leichter zugänglichen Schiffs merkt man, dass der Modus für Einzelspieler eher ein Lippenbekenntnis ist. Mit etwas Übung schafft man es jedoch ganz gut, dass sich die Schaluppe so verhält wie man es möchte und arbeitet langsam und stetig seine Aufträge ab. Hier stößt man zwar teilweise auf spielmechanische Schwierigkeiten, jedoch mit ein paar virtuellen Toden und einer gewissen Verbissenheit ist fast alles machbar.
Unzählige Stunden verbrachte ich alleine mit meiner Schaluppe auf hoher See und habe mit jeder Spielstunde etwas mehr die Intentionen hinter dem Titel verstanden. Ebenso war ich fasziniert vom Ansatz der fehlenden Progression, da dies mittlerweile sowas von untypisch ist. Dieser Ansatz kombiniert mit den einfachen Videospielmechaniken, welche perfekt ineinandergreifen, haben es mir aber angetan. Sea of Thieves unterscheidet sich für mich in einem ganz wesentlichen Aspekt von anderen Videospielen, es stresst mich nicht.
Manchmal mache ich ein paar Tage Pause zwischen meinen Abenteuern, dann kommt es wieder zu täglichen Ausflügen in die virtuelle Inselwelt. Egal wie schnell oder langsam ich im Videospiel vorankomme, dank der fehlenden spielmechanischen Progression habe ich zu keinem Zeitpunkt Angst, dass meine spielerische Leistung hinter der der anderen Videospielern liegt. Niemals die Sorge oder den Druck aufholen zu müssen um nicht den Anschluss zu verlieren, immer die Gewissheit, dass mein Tempo richtig ist. Der bisher bereits mehrfach genutzte Begriff Spielplatz war bewusst gewählt, denn Sea of Thieves ist mein Spielplatz im wörtlichen Sinne und niemals ein Duellplatz oder Schlachtfeld.
Wir leben in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft und Videospiele nehmen für mich heute einen anderen Platz als vor zehn Jahren ein. Früher spielte ich aus Langeweile und um mich mit anderen zu vergleichen, heute spiele ich zur Ablenken und auch zur Entspannung. Mir ist aus eigener Erfahrung bewusst, dass meine reine Leistungsfähigkeit heute geringer als noch vor einigen Jahren ist. Mir ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass ich häufig dem Burnout-Syndrom sehr ähnliche Tendenzen an den Tag lege. Ich spreche aus eigener Erfahrung, dass das Nichteingestehen dieser Tatsachen in depressiven Etappen endet.
Bewusst konsumiert war und ist Sea of Thieves für mich in einer oder bei den Anzeichen einer depressiven Etappe unheimlich wertvoll. Der Titel kann stressige Abschnitte enthalten, jedoch muss ich mich nicht darauf einlassen. Spielmechaniken im Titel, konkret das permanente Feinjustieren und Adaptieren um seinen Zielort zu erreichen, sind Arbeit, aber von der persönlichen Belastung genau zwischen Überforderung und Unterforderung. Sea of Thieves lastet mich aus und beschäftigt mich soweit, dass ich kurzzeitig von der realen Ist-Situation abgelenkt bin. Es ist die gute Art der Ablenkung. Die Art, die mir hilft danach wieder klarer Gedanken in der realen Welt zu fassen. Sea of Thieves ist für mich ein Videospiel, welches mich unbewusst an Momente meine Kindheit erinnert, konkret an Moment am Spielplatz. Unbedarft einfach machen was man möchte, unbedacht sich dem Moment widmen und kurzzeitig nicht nachdenken was die Zukunft bringt oder auf einen wartet. Die Videospielwelt von Sea of Thieves wurde in den letzten Wochen zu meinem bewussten Ort der inneren Ruhe, der Zufriedenheit, der Ausgeglichenheit und der Ablenkungen. Sea of Thieves wurde in den letzten Wochen zu meinem virtuellen Happy Place. Danke dafür.
Gespielt wurde Sea of Thieves auf einer Xbox One S. Das Videospiel ist seit Ende März 2018 für die Xbox One sowie für Windows 10 via Xbox Play Anywhere erhältlich. Bezugsmöglichkeiten sind Amazon (Xbox Download Code oder Datenträger)* oder der Microsoft Store (Xbox Direktkauf)*. Preislich liegt Sea of Thieves bei 50 bis 70 Euro. Als Alternative zum Kauf ist der Titel auch im Xbox Game Pass* enthalten, einem Abo-Dienst bei dem man für monatlich 10 Euro Zugriff auf neue exklusive Videospiele für die Xbox One und über 100 weitere Titel erhält.