Es gibt zwei Arten ein Videospiel zu spielen: Man lässt sich Zeit, eliminiert nach und nach jeden Gegner, durchsucht und sammelt alles was sich so finden lässt und schreitet langsam in der Geschichte voran, aber mit dem Gefühl alles gesehen zu haben. Alternativ ist einem dieses erfüllende Gefühl egal, man prescht einfach vor und stolpert als Minimalist durch die einzelnen Abschnitte um möglichst schnell das Ende zu erreichen. Die beiden extremen Ausprägungen gibt es natürlich auch in abgeschwächter Form oder man wechselt kurzfristig zwischen den Varianten, aber jeder hat seine persönliche Präferenz. Für mich ist die gemächlichere Art die bevorzugte Variante und dieses Spielverhalten ist zumindest bei mir relativ hartnäckig ausgeprägt.
Ende letzten Jahres wurde das von Insomniac Games entwickelte und den Microsoft Studios vertriebene Sunset Overdrive für die Xbox One veröffentlicht. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um den klassischen Ansatz eines zielgruppenoptimierten Spiels: eine offene Spielwelt, gespielt wird mit Blick über die Schulter des Helden, trillionen Sammelgegenstände, Sunset City als fiktive Stadtwelt, ein supergieriges böses Unternehmen und merkwürdig mutierte Gegner die auch als Zombies durchgehen würden. Nach etwa 25 Stunden in Sunset Overdrive kann ich die Optimierung in Bezug auf eine Zielgruppe bestätigen, meine oberflächlich unqualifizierte Vorabeinschätzung jedoch als falsch einstufen. Keine Sorge, Sunset Overdrive bietet alle aufgeführten Komponenten, aber zusätzlich viel mehr.
Die erste Spielhälfte von Sunset Overdrive hat bei mir nicht gezündet, obwohl es zünden hätte müssen. Es ist genau die Art von Spiel die mich anspricht. Den primäre Fokus auf das agile Fortbewegen durch das Laufen an Wänden, die Nutzung aller möglichen Objekte als Trampolin, dem Rutschen sowie Hängen an Leitungen / Schienen / Geländern und dem Gleiten über Wasser habe ich zwar relativ schnell verstanden und verinnerlicht, der für mich wichtige Klick-Moment wurde dadurch jedoch nicht ausgelöst. Die übertriebenen Waffen und Modifikationen gegen die Gegnerhorden sind definitiv anders als bei allen anderen Spiele die ich in den letzten Jahren gespielt habe, im Endeffekt läuft es aber auch nur auf die Thematik der Effektivität der einzelnen Waffen in Bezug auf den Gegnertyp hinaus. Die dritte Komponente wird durch die Spielwelt, die primäre Geschichte sowie den Humor abgebildet. Alles so bewusst und absichtlich übertrieben, dass es quasi ein Faustschlag ins Gesicht ist. Sunset Overdrive sieht sich selbst als Videospiele, behandelt sich als solches und nutzt jedes Klischee was man nur irgendwie nutzen kann und ich meine wirklich jedes Klischee.
Die zweite Spielhälfte von Sunset Overdrive hat bei mir gezündet, obwohl es nicht zünden hätte sollen. Es ist genau die Art von Spiel die mich anspricht und es hat sich gegenüber der ersten Spielhälfte nichts verändert, geändert hat sich jedoch meine Herangehensweise. Anstelle das Spiel zu überanalysieren, vorherzusehen und langsam zwecks einer kompletten Spielerfahrung zu spielen, habe ich einfach gespielt ohne groß darüber nachzudenken. Sunset Overdrive darf man nicht langsam spielen und noch weniger zwanghaft versuchen sofort das vollständige Spiel zu erleben oder zu verstehen. Meine Versuche immer alle Gegner zu eliminieren scheiterten aufgrund der gefühlt unendlich nachkommenden Gegner und die vollständige Erfahrung kann sich zu Beginn aufgrund fehlenden Wissens und Könnens gar nicht einstellen. Es fehlte bei mir zu Beginn der Wurschtigkeitsfaktor, welcher aber mit jedem Misserfolg immer stärker wurde. Etwa bei der Hälfte der Hauptgeschichte hat es Klick gemacht, Sunset Overdrive hat gezündet und ich habe das Um und Auf bei einem Videospiel erreicht, ich war im Flow. Dieser emotionale Effekt legt einen Schalter im Gehirn des Spielers um und man spielt ohne darüber nachzudenken. Die Stimulation des Spielers erreicht einen Level der sich mehr als nur gut anfühlt, man hat einfach Spaß und das Beste daran, man versteht nicht genau warum.
Nach 25 Stunden in Sunset City, dem Beenden der Hauptstory und der Kenntnis des Flow-Effekts im Spiel überrascht und begeistert mich Sunset Overdrive weiterhin. Erfasst man zu Beginn primär die Oberflächigkeit und Übertriebenheit aller möglichen Aspekte, eröffnet sich nach und nach eine Spieltiefe die zumindest ich dem Titel nicht zugetraut hätte. Egal ob es die Variationen der Waffen, das Fähigkeitssystem des Helden, die optisch sowie bewegungstechnisch perfekt abgestimmte Spielwelt oder dir hunderten teils super kleine aber immer kluge Designentscheidungen sind. Sunset Overdrive ist ein Blender, ein Blender aus sehr positiver Sicht.
Gespielt wurde in zwei Etappen seit der Veröffentlichung Ende Oktober 2014. Sunset Overdrive ist ein Xbox One Exklusivtitel und zeigt wie Spielspaß außerhalb von Fotorealismus und unendlich künstlich verlängerten Spielinhalten funktionieren kann. Neben der empfehlenswerten Day One Edition für 50 Euro* gibt es noch ein hübsches weißes Xbox One Konsolenbundle für 390 Euro* bei Amazon. Kostenpflichte Zusatzinhalte in Form von Waffen und rein optischen Outfits für den Spielcharakter sind vorhanden, können aber problemlos ignoriert werden. Hinweis hinsichtlich Transparenz: Microsoft hat mir die Xbox One Version von Sunset Overdrive zur Verfügung gestellt.