Die letzten Stunden habe ich im Minutentakt auf die Uhr gesehen. Heute gilt es pünktlichst Schluss zu machen und dann direkt auf schnellsten Wege nach Hause zu kommen. Ursprünglich wollte ich mir einen Urlaubstag nehmen, was aber aufgrund diverser Umstände leider nicht möglich war. Aber egal, denn ich sitze quasi schon im Auto und nur mehr 30 Minuten trennen mich von dem Paket, dass der Briefträger heute vorbeigebracht hat.
Es ist kurz nach 17 Uhr, der Bass des kürzlich erschienenen Scooter Albums dröhnt aus den Boxen, das Display hinter dem Lenkrad zeigt 1°C Außentemperatur und beide Frontscheibenwischer befreien die Windschutzscheibe vom nicht endenden Schneematsch. Das Wetter könnte besser sein, aber es ist immerhin schon Mitte November und was der April für den Frühling ist, ist der November für den frühen Winter beziehungsweise sehr späten Herbst.
Sechs Monate habe ich auf den heutigen Tag gewartet. Es war im Juni, während der E3, als ich mich entschlossen habe unter die Vorbesteller zu gehen. Die damalige Präsentation auf der E3 hat mich trotz aller Kritik überzeugt und ich wollte dabei sein. Dabei sein, wenn diese ominöse nächste Generation von Videospielen startet. Einfach ein Teil davon sein.
Diese neue Generation setzt aber nicht nur im Bezug auf Grafik, Sound und Physik neue Maßstäbe, sondern ist nichts anderes als der radikale Versuch eines Herstellers ein bisher etabliertes festgefahrenes Vertriebsmodell für Videospiele zu ändern. Änderungen sind nicht leicht und so kam, zumindest für mich, der Aufschrei in Fachmedien und Internetforen nicht wirklich unerwartet.
Das Spielen ist nur mehr mit einer aktiven Internetverbindung möglich und im Handel erworbene Spiele müssen auf dem eigenen Spielerkonto aktiviert werden. Einmal aktiviert ist das Spiel auf ewig mit dem Spielerkonto verbunden und ein Verleihen an Freunde oder gar der private Weiterverkauf werden unterbunden. Man besitzt keine Spiele mehr, man besitzt nur noch begrenzte Nutzungsrechte. Das war zwar schon seit jeher so, aber erst jetzt scheint es relevant zu sein und der Shitstorm dazu ist angelaufen.
So oft wie die Sinnhaftigkeit der Einschränkungen diskutiert wurde, so oft wurde vermutet, dass sich die Rahmenbedingungen unter dem öffentlich Druck ändern werden. In den sechs Monaten von der E3 bis heute hat sich aber nichts geändert. Es wurde nicht klein beigegeben und alles so gestartet wie es geplant und angekündigt wurde. Manche stornierten Ihre Vorbestellungen, viele drohten mit lebenslangen Boykott und wieder andere sprachen von der Enteignung sowie der totalen Überwachung. 1984 lässt grüßen.
Ich habe während dieses halben Jahres manchmal über meine Vorbestellung nachgedacht, bin aber dabei geblieben. Die Einschränkungen scheinen zwar im Gegensatz zu den ewig heruntergebeteten Vorteilen der Cloud zu dominieren, aber mein Bauchgefühl meint unbedingt vom ersten Tag an dabei sein zu müssen. Stillstand kann gut sein, ist es aber meistens nicht. Online ist die Zukunft, die Cloud ist die Zukunft, die Zukunft für Videospiele.
Nach einer halbe Stunde voller hirnbefreiten Bass steige ich gefühlte zehn Jahre jünger aus dem Auto aus. Endlich im Haus angekommen wird zuerst das zugestellte Paket in Augenschein genommen und bereits wenige Minuten später in voller Vorfreude in die neue Generation gestartet. Der Bildschirm wird schwarz und nur Sekunden später begrüßt mich eine vertraute Stimme. Gleichzeitig weicht das Schwarz dem digitalen Sonnenlicht und ich sehe mein Alter Ego auf den Weg nach City 17. Neben mir liegt der Inhalt des Pakets, die physischen Inhalte der Half-Life 2 Gold Edition Box. Ein Datenträger fehlt, denn die Spieldaten kamen von Steam, aus dem Internet, aus der Cloud, der ominöse Zukunft der Videospiele.
Über sechs Jahre lang hat es gedauert, bis Valve den zweiten Teil von Half-Life im November 2004 veröffentlicht hat. Gleichzeitig war es das erste Spiel, welches Valves digitale Vertriebsplattform Steam mit allen Vor- und Nachteilen zwingend vorausgesetzt hat. Heute sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen 3,5 und 4 Millionen Spieler gleichzeitig mit Steam verbunden und Steam stellt defacto die Vertriebsplattform für PC-Videospiele dar. Was in den fast neun Jahren aus den damals lautstarken Kritikern wurde? Spieler, Kunden und Datenquellen.