Irgendwie möchte ich mit einer hochtrabenden schlauen Einleitung wie zum Beispiel Carrion ist ein Videospiel aus dem Genre Metroidvania, in dem die übliche Rollenverteilung umgedreht wird und man als Videospieler die Kontrolle über ein schwabbeliges fleischiges Monster mit zig Augen, Mündern und Tentakeln unbekannter Herkunft übernimmt, um aus einem unterirdischen Labor, in dem man gefangen gehalten wird, zu entkommen. Irgendwie möchte ich aber gleichzeitig keine Einleitung, die man vermutlich in ähnlicher Form zigfach in anderen Beiträgen über Carrion zu lesen und hören bekommt. Aber dennoch etwas, um die Grundprämisse des inhaltlich unkonventionellen Titels kurz und prägnant wiederzugeben. Wortspiele, blumige Umschreibungen oder dahingedroschene Standardphrasen bieten sich an, wären aber zu einfache Hilfsmittel und Methoden. Vermutlich passen vier Themen ohne direkten Zusammenhang, die mir nach den etwa vier Stunden Spielzeit während des Abspanns im Kopf geblieben sind, als Einleitung gut: Snacken statt Sneaken, der Flow zwischen unglaublicher Übermächtigkeit sowie fragiler Verwundbarkeit, das Sammeln von einzigartigen erinnerungswürdigen Momenten und dass Carrion kein Videospiel aus dem Genre Metroidvania ist.
Ohne ganz genau konkretisieren zu können weshalb, mein persönliches Motto während des Videospiels war sehr häufig Snacken statt Sneaken. Für jemanden, der sich bis zu diesem Text nicht mit Carrion beschäftigt hat, klingt dieses Motiv mit hoher Wahrscheinlichkeit merkwürdig als auch verwirrend. Snacken kommt von dem Umstand, dass man sich als Monster durch die verschiedenen Bereiche des unterirdischen Labors bewegt oder konkreter formuliert, seine Fleischmasse mit Hilfe der Tentakel durch die Gänge schiebt. Während des Fluchtversuchs begegnet man Wissenschaftlern, welche im Labor arbeiten und auf Schutzvorrichtungen sowie unterschiedlich stark bewaffnete Sicherheitsleute, welche versuchen die Flucht zu einem frühzeitigen Ende zu bringen. Die für mich befriedigendste Methode das Problem der unterschiedlichen Auffassung bezüglich der weiteren Vorgehensweise zu lösen war, dass ich alle Menschen mittels meiner Tentakel in zwei Teile gerissen habe und die daraus resultierenden Körperhälften in Münder von mir geschoben habe. Quasi Menschen wegsnacken, weil dann können diese nicht mehr zu einem Problem werden und gleichzeitig bringt jede vollständig weggesnackte Person etwas Lebensenergie. Alternativ zu meiner bevorzugten Strategie kann man sich auch fast durchgehend mittels geschickter Bewegung an gefährlichen Personen vorbeischleichen, Lüftungsschächte und Labor trennende Gitter unauffällig mittels Tentakel entfernen und dann im Notfall einzelne Gefahrenpotentiale gezielt außer Gefecht setzen. Funktioniert auch um weiterzukommen und vermutlich kann man das Videospiel beenden, ohne oder mit nur sehr wenige weggesnackten Menschen, aber es macht schlichtweg nicht so viel Spaß, wie wenn man sich laufend die Ober- und Unterkörper seiner Opfer reinschlingt. Daher Snacken statt Sneaken, denn es gibt meines Wissens kein anderes Videospiel, bei dem das Snacken von Menschen gegenüber anderer Problemlösungswege ein so befriedigendes Gefühl erzeugt wie hier.
Spannend war auch der Flow den man beim Spielen Carrion erreicht. Der Begriff Flow bezeichnet einen Gemütszustand, in dem alles um einen herum verschwindet und man voll und ganz in etwas aufgeht und das was man macht, praktisch von allein ohne großes Denken passiert. Kurz ein sehr effektiver Fokusmodus, welcher sich unheimlich gut anfühlt. Carrion schafft es durch die Kombination von ganz vielen Elementen und Videospielmechaniken den Videospieler immer wieder genau in diesen Modus zu versetzen. Besonders fällt dies auf, da man als Monster andauernd zwischen den Gefühlen der unglaublichen Übermächtigkeit sowie der eigenen fragilen Verwundbarkeit wechselt. Manchmal überrollt man mit seiner Fleischmasse einen Bereich, navigiert mit Hilfe der Tentakel vertikal, greift einzelne Menschen an und zerteilt diese, wirft herumstehendes Equipment gegen bewaffnetes Sicherheitspersonal und manövriert das wabbelnde Etwas mit höchster Präzession unter hohen Fokus von Position zu Position, als wäre man genau jetzt bereit die Welt zu übernehmen. Nur um kurz darauf bewusst zu einer deutlich kleineren, schwächeren und sehr angreifbareren Form zu wechseln, da ein Abschnitt spezielle Fähigkeiten des Monsters benötigt, welche nicht in den fortgeschritteneren Ausprägungen des Monsters zur Verfügung stehen. Das für mich Beindruckend dabei war, dass dieser bewusste Wechsel zwischen den beiden extremen Zuständen zwar sehr häufig passiert, aber aufgrund der Gestaltung der Videospielwelt, den subtilen Hinweisen zur anstehenden Problemlösung, der dazu passend synchronisierten Hintergrundmusik, der bis auf das Grundgerüst nicht vorhandenen Geschichte und der zeitlich gut abgestimmten Abwechslung hinsichtlich des Spielverlaufs nie genervt hat. Es hat sich organisch angefühlt, es hat sich absolut selbstverständlich angefühlt und auch als die einzige in diesen Momenten richtige Sache, ohne dass ein Nachdenken darüber erforderlich war.
Trotz der überschaubaren Spieldauer gibt es häufig Momente, die auch nach dem Beenden des Titels im Kopf geblieben sind. Manche davon sind bewusst von den Entwicklern durch die Gestaltung der Videospielwelt und dem Verlauf des Titels eingebaut worden, aber ohne zu offensichtlich auf den Videospieler zu wirken. Es sind die Sequenzen, in denen man plötzlich etwas versteht, obwohl es bereits die ganze Zeit da war und man einfach bis dahin umgangssprachlich Eins und Eins nicht zusammengezählt hat. Diese Momente wirken intensiv, denn Carrion geizt mit Erklärungen. Bedeutet, dass man als Videospieler durch Probieren und den Einsatz der Fähigkeiten nach und nach die Funktionsweise des Monsters und die Regeln der Videospielwelt erlernt, versteht, meistert und dann unerwartet kombiniert die Lösung für ein Problem im streng linearen Verlauf des Titels entdeckt. Die zweite Kategorie von erinnerungswürdigen Momenten sind einige der Kämpfe gegen Sicherheitspersonal und diverse Schutzvorrichtungen, bei denen man oftmals mit der eigenen fragilen Verwundbarkeit gegenüber Flammenwerfern und Schusswaffen konfrontiert wird. Nichts bleibt mehr in Erinnerung als ein Gefecht, während dem man mit nur mehr einem Lebenspunkt sich von einer zur anderen Ecke manövriert und bei der kleinsten Möglichkeit die Gefahrenquellen nach und nach reduziert. Beide Arten von Momenten sind befriedigend auf Ihre eigene Art und Weise, mehr als eine Handvoll dieser Momente schwirren beim Verfassen dieser Zeilen in meinem Kopf herum, etwas Positives, was nicht viele Videospiele in dieser Intensität schaffen.
Die wichtigste Erkenntnis für mich war jedoch, dass Carrion nicht zum Genre Metroidvania gehört. Das ist auch absolut in Ordnung und kein Problem, aber das Missinterpretieren zu Beginn hat es mir schwerer als eigentlich nötig gemacht. Rein die Grundbeschreibung, dass man sich durch eine umfangreiche 2D-Videospielwelt bewegt, fortlaufend neue Fähigkeiten bekommt und stärkere Gegner immer leichter besiegt, sowie durch diese Fähigkeiten weitere Gebiete als auch neue Wege in zuvor absolvierten Bereichen freilegt, klingt eindeutig nach Metroidvania. Genauso wie ich Titel dieses Genres spiele, habe ich versucht in Carrion vorzugehen. Aufgrund einer nicht vorhandenen Karte der Videospielwelt, einem ausgeprägten Entdeckerdrang und dem persönlichen Anspruch alles zu finden, habe ich mich zu Beginn sehr schnell verzettelt und bin immer wieder aus dem Flow gefallen oder gar nicht ganz reingekommen. Erst als ich innerlich aufgegeben habe und Carrion das Tempo und den Weg vorgeben habe lassen, bin ich weitergekommen und schlussendlich voll in den Flow reingekippt. Die fehlende Karte und manchmal auftretende Orientierungslosigkeit sind relativ egal, solange man einfach auf sein Bauchgefühl hört und macht was man gerade als richtig erachtet. Das bewusste Ignorieren der Versuchung mit jeder neuen Fähigkeit in frühere Gebiete zu gehen ist in Ordnung, denn der Titel bringt den Videospieler im Verlauf automatisch dorthin und im schlimmsten Fall versäumt man nur eine von neun Bonuseigenschaften, welche aber komplett optional und eigentlich auch egal sind. Carrion sieht aus, klingt nach und wirkt in den ersten Minuten eindeutig nach einem Metroidvania, es ist jedoch absolut kontraproduktiv es als ein solches zu spielen.
Carrion bricht mit Konventionen, sowohl inhaltlich und spielt gleichzeitig auch mit dem Denken in Schubladen beim Medium Videospiele. Als Videospieler glaubt man in den ersten Minuten durchblickt zu haben um was es geht, nur um damit nicht erfolgreich zu sein. Carrion erklärt nichts und lässt den Videospieler damit in genau der gleichen unbekannten Situation wie das Monster, welches man steuert und versucht zur Flucht zu verhelfen. Das Monster hat keine Ahnung was auf es zukommt, als Videospieler hat man ebenso keine Ahnung, weder was passiert noch wie etwas funktioniert. Einzelne Elemente die offensichtlich ohne Zusammenhang stehen oder den Videospieler anfangs verwirren, ergeben erst nach und nach Sinn. In Kombination mit einem sehr befriedigenden Spielgefühl, welches sich durch den Flow in den man als Videospieler reinkippt ergibt, bietet Carrion eine sehr empfehlenswerte ungewöhnliche und befriedigende Erfahrung für ein Produkt des Mediums Videospiel.
Gespielt wurde Carrion auf einem Gaming-PC. Entwickelt wurde der Titel vom polnischen Entwicklungsstudio Phobia Game Studio. Vertrieben wird das Videospiel vom amerikanischen Publisher Devolver Digital. Das Videospiel ist für den PC (Windows, Mac, Linux), Nintendo Switch und die Xbox-Plattform erhältlich. Digitale Bezugsmöglichkeit sind GOG.com (DRM freier PC-Direktkauf), Steam (PC-Direktkauf) der Microsoft Store (Xbox und Windows 10 PC-Direktkauf) und der Nintendo eShop (Switch AT-Direktkauf). Preislich liegt das Videospiel bei etwa 20 Euro.