Alle Jahre im Spätherbst veröffentlicht Ubisoft ein Videospiel aus dem Assassin’s Creed Universum. Alle Jahre nehme ich mir vor, dass ich nach zig Jahren meine Finger vom neuen Ableger lasse und erst dann zum Controller greife, wenn ich auch wirklich Zeit dafür habe. Alle Jahre scheitere ich und auch dieses Jahr habe ich erneut den Vorsatz gebrochen um mit den Zwillingen Evie und Jacob Frye das für die Videospielserie verhältnismäßig moderne London im Jahr 1868 zu erkunden. Das Ergebnis nach 45 Spielstunden ist relativ einfach: Assassin’s Creed Syndicate ist die Mischung aus typischen Assassin’s Creed Mechaniken in einer typisch überladenen Ubisoft-Open-World-Umgebung, welche mit penibel optimierten Inhalten überzogen wurde, um eine möglichst breite Zielgruppen zufrieden zu stellen. Wer bisher noch nie mit einem Teil der Reihe in Berührung gekommen ist, liest zum Einstieg und besseren Verständnis der Spielmechanik vorab den letztjährigen Beitrag zu Assassin’s Creed Unity, denn Assassin’s Creed sieht zwar jährlich anders aus, ist aber im Prinzip immer wieder dasselbe mit diversen Abwandlungen.
Manchmal, wie zum Beispiel beim letztjährigen Ableger Unity, funktioniert die Kombination der einzelnen Abwandlungen weniger gut. Manchmal, wie zum Beispiel beim diesjährigen Syndicate, funktioniert die Kombination davon fast perfekt. Manchmal, wie zum Beispiel dieses Jahr, bin ich selbst davon überrascht. Die Basis in Form der Spielmechanik ist seit Beginn der Serie gleich und im Prinzip auch relativ einfach: Zielbereich in einer offenen Spielwelt erreichen, die Gegner sowie das Ziel erkennen, mögliche Wege auf Basis der Umgebung sowie der Ausgangslage beurteilen und am Ende das Ziel eliminieren. Dazwischen gibt es etwas Freerunning, Klettern, Schleichen und Kämpfen mit unterschiedlicher Gewichtung in den unterschiedlichen Abschnitten. Der Rest ist nüchtern formuliert Füllmaterial in der Spielwelt. Nicht viel Neues und qualitativ sind die einzelnen Komponenten seit Jahren durchgehend auf einem sehr hohen Niveau. Die Frage aller Fragen: Was macht Syndicate anders als Unity? Die Antwort aller Antworten: Das selbe was Assassin’s Creed II im Jahr 2009 soviel besser gemacht hat als den ersten Teil der Serie aus dem Jahr 2007.
Einen unheimlich wichtigen Teil nimmt die Spielwelt in Form von London im Jahr 1868 ein. Was zu Beginn im Vergleich zum farbenfrohen Paris aus Unity wie ein langweiliger braungrauer Matsch wirkt, entwickelt innerhalb weniger Stunden einen besonderen Charme. Die Industrialisierung läuft auf Hochtouren und es bereitet einfach unheimlich viel Freude und auch innere Befriedigung die Stadt während dieser spannenden Phase zu beobachten und die Atmosphäre regelrecht zu inhalieren. Egal ob es die rauchenden Schornsteine der Fabriken in der Abenddämmerung sind oder der Bodennebel im Morgennebel ist, die verträumt wirkende Großstadt ist einfach atemberaubend und faszinierend während solcher Momente. Dazwischen ein paar Kutschen, die durch die engen Straßen der Stadt fahren, das emsige Treiben der Boote auf der Themse und laute Züge die in belebten Bahnhofshallen ein- und ausfahren. London und die Bewohner haben eine eigenartige Dynamik, die sich als Beobachter nur schwer in Worte fassen lässt, aber dank der modernen zeitlichen Platzierung für einen selbst leichter begreifbar und verstehbar ist, als wenn das Videospiel ein paar Jahrhunderte früher angesiedelt wäre. Assassin’s Creed Syndicate schafft den Spagat der Stadtsimulation zwischen Realismus, Spielbarkeit und Wow-Effekten so perfekt, wie es meiner Erinnerung nach kein Videospiel der näheren Vergangenheit auch nur annähernd geschafft hat.
Einen ähnlich wichtigen Spagat schafft die primäre Geschichte, die massiv von der Dynamik zwischen den Zwillinge Evie und Jacob lebt. Evie Fry übernimmt in der Geschwisterbeziehung den eher ruhigen rational denkenden Part, wobei Jacob Fry eher impulsiv direkt zur Tat schreitet. Ist natürlich ein typisches Videospiel-Klischee in höchster Ausführung, funktioniert aber erstaunlich gut und wirkt weder aufgesetzt noch störend. Fühlten sich in früheren Teilen der Serie die erforderlichen Vormissionen bis zur primären Mission eines Kapitels oft wie ein notwendiges Übel an, kaschiert die Dynamik und Art der Erzählung dieses Manko in Syndicate so geschickt, dass sich die in sich selbst wiederholende Spielmechanik innerhalb der einzelnen Missionen auch nach mehreren Stunden und zig Wiederholungen frisch anfühlt. Egal ob man das fünfte Mal mit einer Kutsche von A nach B fährt, mittels Greifhacken diverse Gebäuden erklimmt oder sich eine Verfolgungsjagd über breite Straßenschluchten liefert und zwischendurch mal hier und dort Gegner eliminiert.
Das volle Potential entsteht aber erst durch die Kombination dieser beiden Elemente, denn üblich für die Open-World-Umgebung in einem Ubisoft-Videospiel der letzten Jahre ist auch London im Jahr 1868 mit gefühlt unendlich vielen Dingen angereichert worden. Neben den typischen Inhalten wie Schatzkisten und anderen Sammelgegenständen, ist die Stadt in Stadtteile und diese wiederum in Bezirke aufgeteilt. In jedem Bezirk gilt es eine primäre Aufgabe zu erfüllen um das Gebiet zu erobern. Die Anzahl der unterschiedlichen Aufgaben ist überschaubar und die Erfüllung eigentlich schnell langweilig, wenn nicht dieser Tätigkeit die passive Geschichte des Bandenkriegs in London zugrunde liegen würde. Die Hoheit über die Stadt hat zu Beginn die Gang der Blighters, welche den Bewohnern und damit der Stadt das Leben schwer machen. Ein Umstand der beiden Geschwistern nicht gefällt und durch die von Jacob gegründete Gang names Rooks bekämpft wird. Mit jedem eroberten Bezirk steigt der Einfluss der Rooks und nach und nach werden die Blighters vom digitalen Stadtplan verdrängt. Ein simpler spielmechanischer Kniff, der sich jedoch unheimlich organisch anfühlt und das Absolvieren der sich stetig wiederholenden Aufgaben einen größeren Sinn gibt und überraschend motivierend sein kann.
Und der Rest? Ebenso gut, jedoch bei weitem nicht so relevant wie die drei oben ausgeführten Themen. Ein rollenspielähnliches Levelsystem? Überfälle und die Möglichkeit die Ausrüstung selbst herzustellen? Mikrotransaktionen und ein Season Pass? Eine kurzer Abstecher in eine andere Zeitepoche sowie das fortführen der übergreifenden Gesamthandlung der Videospielserie in der Gegenwart? Alles da, jedoch so weit im Hintergrund, dass es nicht der Hauptgrund ist um Assassin’s Creed Syndicate zu spielen. Die Damen und Herren von Ubisoft Montreal haben die gute Aspekte der Serie sinnvoll weiterentwickelt und die negativen Teile reduziert oder weggelassen. Alles ist auf Hochglanz poliert, inhaltlich optimiert und möglichst Massenkompatibel angelegt. Dort wo Assassin’s Creed draufsteht, bekommt man Assassin’s Creed, auch wenn sich die Serie in den letzten Jahren spürbar von der ursprünglichen Ausrichtung aus dem Jahr 2007 entfernt hat. Für mich in eine durchaus positive Richtung und wenn jetzt noch die unnötig übertriebene Gewaltdarstellung auf ein Minimum reduziert werden würde, dann würde meine Liebesbrief an meine Lieblingsvideospielreihe noch etwas blumiger ausfallen als dieser Beitrag ohnehin ausgefallen ist. Und mit was? Mit Recht und aus gutem Grund.
Gespielt wurde die Xbox One Version von Assassin’s Creed Syndicate. Zusätzlich gibt es wie üblich auch eine Version für die PlayStation 4 sowie den PC. Preislich schwankt der Titel je nach Plattform und Edition zwischen 50 und 80 Euro auf Amazon*. Die jeweiligen digitalen Marktplätze verlangen im Schnitt 10 Euro mehr und verkaufen zusätzlich den Season Pass mit der Jagd auf Jack the Ripper um etwa 30 Euro. Hinweis hinsichtlich Transparenz: Ubisoft hat mir Assassin’s Creed Syndicate als physische Disc-Version zur Verfügung gestellt.